Erinnerungen an Odessa

Manchmal habe ich beim Lesen von Überschriften im RSS-Feed völlig „falsche“ Assoziationen. Da lese ich in der Berliner Zeitung:
Erinnerung an Odessa: Es presst mir die Kehle zusammen
ein Artikel in dem der deutsche Schriftsteller Jan Koneffke über seine Erinnerungen an Odessa in der Ukraine berichtet. Doch das einzige was ihm angeblich so die Kehle zupressen würde, macht er an einem prominenten Gast seines Hotels fest:

… doch der berühmteste unter den Gästen war ein – bis heute aktiver – Verbrecher gewesen: Wladimir Wladimirowitsch Putin.
Nun wollen sich er und seine Bande – Geheimdienstler, Militärs und Oligarchen – die Hafenstadt unter den Nagel reißen. Mit blutigen Mitteln wollen sie verhindern, dass Odessa den Weg in die Zukunft antritt. Es presst mir die Kehle zusammen, wenn ich daran denke, dass sich die Geschichte, wie ich sie in meinem Roman beschrieb, zerstörerisch zu wiederholen scheint.
Doch hoffe ich noch, einmal wieder zum Literaturfestival in Odessa zu reisen und im barock-klassizistischen Goldenen Saal des Literaturmuseums, in dem ich 2017 mein Buch vorstellte, im Londonskaya, auf der Potemkinschen Treppe nur schadenfrohes Gelächter zu hören – wenn von Wladimir Putin die Rede ist.

Das Massaker „proukrainischer“ … wie soll man sie nennen? Militante? Terroristen? Mörder? … die 2014 ein Gewerkschaftshaus in Brand setzten und 42 „prorussische“ Aktivisten dadurch ermordeten, oder wenigstens das Massaker in Odessa im Herbst/Winter 1941 an den Juden, spielt in seinen „Erinnerungen“ offensichtlich keine Rolle, obwohl er danach in Odessa war und darum wissen musste. Die einzigen negativen Emotionen hat er gegenüber Putin, die in der Gästeliste seines Hotels stand, wie ich finde sehr bezeichnend für die aktuelle, wertewestliche Beurteilung dieses Konflikts, bei der alles was vor dem 24.2.2022 passierte konsequent ausgeblendet wird. Auch das hat System:

Was war, zählt nicht, nur was eben geschieht, bestimmt unser Denken und Handeln.
Wir interessieren uns nicht mehr für die Vergangenheit, weil wir keine Vergangenheit mehr haben. Längst ist das flüchtige Kurzzeitgedächtnis an die Stelle der Erinnerung getreten.

Auch das gehört zum Niedergang der Diskurskultur.
Geschichte wird bei Jan Koneffke aber nicht komplett ausgeblendet. Die Treppe aus „Panzerkreuzer Potemkin“ einem Stummfilm von 1925 ist ihm als Erinnerung wichtig, nicht aber das was offensichtlich nicht in sein Werteweltbild passt.
Das Massaker in Odesse von 2014 wird übrigens auch von der Wikedpedia konsequent klein geschrieben. Da ist in der Überschrift nur von „Ausschreitungen“ „eine Reihe von Zusammenstößen zwischen proukrainischen und prorussischen Demonstranten“ die Rede bei der „48 Menschen ums Leben kamen“ und „mündeten darin, dass proukrainische Militante ein Gewerkschaftshaus, in welchem sich prorussische Personen versteckt hatten, in Brand steckten“. Kein Wort im ersten Absatz, dass sich 42 der Getöteten in dem Gewerkschaftshaus waren und somit ermordet wurden. Erst im weiteren Text sind diese Details zu finden, wobei der Brand aber nur noch „ausbrach“ und dabei die Menschen getötet wurden bzw. durch Sprünge aus dem Fenster. Und irgendwann wird auch noch das Versagen der ukrainischen Justiz und deren einseitige Ermittlungen nur gegen „prorussische“ Aktivisten und das bis 2020 niemand für dieses Massaker zur Rechenschaft gezogen wurde, ja, es kommt sogar jemand von der „proukranischen“ Seite dort zu Wort, der dieses Massaker moralisch rechtfertigt und von jeglicher Ungesetzlichkeit frei spricht. Die Beileidsbekundungen und Appelle zur Deeskalation seitens wertewestlicher Vertreter damals klingen heute dagegen um so heuchlerischer, insbesondere weil hier eindeutig die „proukrainische“ Seite und der Ukrainische Staat für das Massaker bzw. die juristische Nichtaufklärung und -verfolgung verantwortlich sind.
Ja, man braucht nicht unbedingt RT DE um die wertewestliche Propaganda als das was sie ist zu durchschauen – aber es hilft.

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3 Antworten zu Erinnerungen an Odessa

  1. Micha schreibt:

    Daran musste ich heute auch denken, an die Toten im Gewerkschaftshaus 2014.
    Als das Großmaul Melnyk mal wieder Deutschland beschimpfte.
    Die Tragödie von Odessa wurde niemals aufgeklärt, weil wohl der rechte Sektor oder ASOW Nazis beteiligt waren.
    Putin sagte ja die Täter wären bekannt.
    Vielleicht bekommt man sie doch noch zu fassen.
    Micha

  2. Uwe Borchert schreibt:

    Das Massaker vom 2. Mai 2014 in Odessa wurde schon damals in den systemrelevanten Medien zuerst totgeschwiegen und dann klein und verzerrt dargestellt. Täter waren sehr wahrscheinlich aus der Westukraine herangekarrte (Fußball-) Hooligans. Aber davon fand man nichts in unseren Qualitäts- und Quantitätsmedien. Aber auch der Bürgerkrieg ab etwa Sommer 2014 in der Ostukraine fand in unseren Medien nicht statt. Statt dessen haben sich unsere Politkasper mit ukrainischen Milizionären ablichten lassen, so richtige Milizionäre mit Hakenkreuzen, Wolfsangeln und schwarzen Sonnen … voll kompatibel zu wertewestlichen Moralvorstellungen. Aber das hat alles nichts mit nichts zu tun und Putin ist Schuld an allem und den Klimawandel.

  3. cassiel schreibt:

    Ganz im Sinne dieses perversen Erinnerns an Odessa wird in Berlin jetzt sogar ein Platz nach Odessa benannt. Und sogar der Berzirksbürgermeister von der Linken findet das gut.

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